Nondualismus und Lügner-Paradoxie




In diesem Forum sollen die zentralen Ideen der Philosophie Josef Mitterers, der "Nicht-dualisierenden Redeweise", kritisch diskutiert werden. Themen werden unter anderem sein: Mitterers neue Notation der Ausführungszeichen (/.../) zusätzlich zu den Anführungszeichen ("..."), seine Unterscheidung von Beschreibung so far und Beschreibung from now on, seine Konzepte der Objektangabe und der Rudimentärbeschreibung, seine Kritik an "'p' ist wahr, wenn p", sein Abschied von der Wahrheit, sein neuer Empiriebegriff (Weitergehen auf eine neue These anstelle des Scheiterns am Objekt), seine Kritik des Konstruktivismus (insbesondere Maturana und Roth), seine Kritik des Relativismus (insbesondere Whorf, Winch, Quine, Kuhn, später Wittgenstein) u. a.

Nondualismus und Lügner-Paradoxie

Beitragvon sw23 » 24. Dezember 2012, 10:09

Im dualistischen Denken tritt folgendes bekanntes Problem auf:

"Alle Kreter lügen immer", sagt der Kreter.
Wenn alle Kreter immer lügen, ist auch der Satz "Alle Kreter lügen immer" eine Lüge.
Wenn es eine Lüge ist, dass alle Kreter immer lügen, dann lügen alle Kreter nicht immer (oder: nicht alle Kreter immer) (A).
Dann könnte der Satz "Alle Kreter lügen immer" auch wahr sein.
Dann aber würden alle Kreter immer lügen (B).
–> Widerspruch zwischen (A) und (B)

Verkürzt formuliert: Wenn der Satz "Alle Kreter lügen immer" wahr ist, ist er falsch. Wenn er falsch ist, ist er wahr.

Warum die dualistische Rekonstruktion mit der Unterscheidung von Objekt- und Metasprache alleine nicht weiterhilft:

"Alle Kreter lügen immer", sagt der Kreter.
Jede Aussage ist entweder wahr oder falsch, auch die Aussage "Alle Kreter lügen immer" ist entweder wahr oder falsch (hier: wahr oder eine Lüge).
Wenn es also wahr ist, dass alle Kreter immer lügen, dann ist auch der Satz "Alle Kreter lügen immer" eine Lüge.
Wenn es aber eine Lüge ist, dass alle Kreter immer lügen, dann lügen alle Kreter nicht immer (oder: nicht alle Kreter immer) (A).
Dann könnte der Satz "Alle Kreter lügen immer" auch wahr sein.
Dann aber würden alle Kreter immer lügen (B) [alle Übergänge von der Metasprache zur Objektsprache sind ok, da die Auszeichnungen mit Wahrheits- oder Falschheitsprädikaten immer schon erfolgt sind].

***

Wie sieht dieses Problem aus, wenn man die nondualistische Denkweise vertritt, wenn man also Beschreibungen, die die Voraussetzungen von mit "..." markierten Beschreibungen sind, mit /.../ markiert?

Dann haben wir es zunächst einmal mit drei weiter beschriebenen Objekten zu tun:

(1) "Alle Kreter lügen immer", sagt der Kreter. Der Satz "'Alle Kreter lügen immer', sagt der Kreter" ist eine Beschreibung des Kreters, der etwas sagt, nämlich "Alle Kreter lügen immer". Der Satz ist also eine Fortsetzung, eine Beschreibung from now on der bereits ausgeführten Beschreibung /der Kreter/.

(2) Alle Kreter lügen (nicht) immer. Der Satz "Alle Kreter lügen (nicht) immer" ist eine Beschreibung aller Kreter, nämlich jene, dass sie (nicht) immer lügen. Der Satz ist also eine Fortsetzung, eine Beschreibung from now on der bereits ausgeführten Beschreibung /alle Kreter/.

(3) Der Satz "Alle Kreter lügen immer" ist eine Lüge. Der Satz "Der Satz 'Alle Kreter lügen immer' ist eine Lüge" ist eine Beschreibung eines Satzes, nämlich des Satzes "Alle Kreter lügen immer". Der Satz ist also eine Fortsetzung, eine Beschreibung from now on der bereits ausgeführten Beschreibung /der Satz "Alle Kreter lügen immer"/.
(Den Satz "Der Satz 'Alle Kreter lügen immer' ist wahr" braucht der Nondualist gar nicht.)

Aber:

Wenn (1) und (2) zusammengedacht werden (und das muss wohl auch der Nondualist irgendwie tun), wenn also (2) als Fortsetzung von (1) verstanden wird, stellt sich dasselbe Problem wie im Dualismus:

DER KRETER SAGT "ALLE KRETER LÜGEN IMMER"...
... UND LÜGT DABEI WIE ALLE KRETER. oder ... UND LÜGT DABEI NICHT.


***

Aus nondualistischer Perspektive müsste man sich m. E. der Lügner-Paradoxie mit drei Fragen annähern:

1) Finden sich in dem gesamten mit Wahrheit und Falschheit 'oszillierenden' Argument irgendwo Apriorisierungen/Voraussetzungen von Satzinhalten vor Sätzen, die problematisiert werden müssten?

2) Finden sich in dem Argument irgendwo Vermischungen der Sprache des Kreters mit der Sprache des Konstrukteurs des Paradoxons?

3) Wie kann die nondualistische Beschreibung von Lüge (Lügen = anders sprechen als man denkt) auf die Lügner-Paradoxie angewendet werden?


Eine mögliche Auflösung könnte dann (überraschenderweise) so aussehen:

"Alle Kreter lügen immer", sagt der Kreter. Wenn es wahr ist, dass alle Kreter immer lügen, dann lügen sie doch auch, wenn sie über ihre Herkunft sprechen, oder? Woher wissen wir (Nicht-Kreter) dann überhaupt, dass der Kreter zu uns spricht? Auch sein Reisepass oder seine Geburtsurkunde müssten doch dann gefälscht sein. Der "wahre" Kreter wäre dann jener, der unter falscher Identität lebt, also etwa ein Mensch auf Kreta, der notorisch behauptet, Albaner oder Türke zu sein. Damit führt sich aber die Wahrheitsvariante ad absurdum: Es wäre für den Konstrukteur des Paradoxons nie zweifelsfrei feststellbar, ob der Kreter zu ihm spricht. Sogar die geographische Herkunftsbestimmung mittels Genomanalyse setzt wahre Angaben über die Herkunft der Probanden voraus: "Zusätzlich registrierten die Wissenschaftler die Herkunft der Großeltern oder, wenn diese Information nicht verfügbar war, den Geburtsort der Probanden." (http://www.stern.de/wissen/mensch/erbgu ... 36764.html)

Weitere Schwierigkeiten: Wenn alle Kreter immer lügen und auch über ihre Herkunft bzw. Abstammung notorisch lügen, stellt sich die Frage, wer jene Menschen sind, die (empirisch nachweislich) auf Kreta leben und von sich selbst (empirisch nachweislich) behaupten, dass sie Kreter sind. Und das sind nicht wenige ;-).

Wenn alle Kreter immer lügen, dann wird der Spracherwerb der Kreter verkompliziert bzw. nur noch im Austausch mit Nicht-Kretern möglich. Auf die Frage des Kreter-Kindes "Papa, was ist das?" müsste der Kreter-Papa nämlich auch notorisch lügen. Wer nur die Lüge kennt, aber nicht die Wahrheit, der kann insofern auch nicht anders sprechen, als er denkt, also lügen. Die Möglichkeit der (notorischen) Lüge setzt die Möglichkeit des Denkens der Wahrheit voraus. Das Denken (und Aussprechen, was ja zuerst kommt) der Wahrheit würde den Kreter-Kindern aber, wenn überhaupt, nur von Nicht-Kretern vermittelt werden. Ein Kreter-Kind müsste also fragen: "Papa, warum sagen die Türken zur Banane Apfel?", und als Antwort würde das Kind vom Kreter-Papa schon die nächste Lüge aufgetischt bekommen. Wie gesagt, das würde alles stark verkomplizieren, wenn nicht gar normale Kommunikation verunmöglichen, und die Kreter würden vermutlich nicht als notorische Lügner, sondern als kollektiv verrückte Sprachautisten gelten.

All diese Schwierigkeiten veranlassen mich zu der Feststellung: Die Variante, dass alle Kreter immer lügen, entfällt. Nicht das Paradoxon ist das Problem des Denkens, sondern eine Voraussetzung des Paradoxons ist bereits eine Denkunmöglichkeit, nämlich der Wahrheitsfall von "Alle Kreter lügen immer". Ein Immer-Lügen ist eigentlich logisch wie empirisch ausgeschlossen, sowohl von einer Einzelperson (irgendwann muss auch diese mal die Wahrheit gesagt haben, zumindest als Kind) als auch von einer Gruppe.

Bleibt also nur die Variante, dass es falsch ist, dass alle Kreter immer lügen. Nun, dann hat einfach unser Kreter etwas Falsches gesagt, und das kümmert uns nicht weiter bzw. steht ja in Einklang mit den obigen Überlegungen.

***

Und wie sieht es schließlich mit der zugespitzten Kurzform des Paradoxons nach Russell aus: "Ich lüge jetzt." Dieser Satz hat keinen Satzinhalt, er wäre nur sinnvoll mit Doppelpunkt am Ende, als Ankündigung: "Ich lüge jetzt: Ich bin ein Kreter." (So ursprünglich Josef Mitterer bei einem Vortrag auf dem Heinz-von-Foerster-Kongress 2005 in Wien.)

Löst sich das Lügner-Paradoxon in Luft auf?

Frohe Weihnachten!
sw23
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von Anzeige » 24. Dezember 2012, 10:09

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