Lieber Herr Blaser,
mit Ihrem letzten P.S. haben Sie wohl den Knackpunkt der ganzen Geschichte erwähnt. Ich erlaube mir zunächst ein Zitat in diesem Zusammenhang:
"Im Alltag wie in den Wissenschaften sind wir alle Realisten. Wir glauben, daß unsere Welt vor ca. 15 Milliarden Jahren entstanden ist, daß es aber erst seit etwa 100 000 Jahren den homo sapiens als sprachbegabtes Wesen gibt. Die Welt hat also schon sehr lange existiert, bevor die ersten Menschen auftraten, und kann daher nicht Produkt menschlicher Erfahrungen und Ansichten sein." (Franz von Kutschera: "Zwischen Skepsis und Relativismus", S. 208) [Interessant ist an diesem Zitat übrigens, dass von Kutschera geschrieben hat "Wir
glauben, daß unsere Welt..." und nicht "Wie wir
heute wissen, ist unsere Welt...", aber das nur nebenbei].
Eine der Pointen des Nondualismus ist nun, dass eben nicht behauptet wird, dass der Urknall, die Bakterien oder die Dinosaurier "Produkt[e] menschlicher Erfahrungen und Ansichten" sind. Die Welt hat es nach dem derzeitigen Wissen schon vor der Sprache gegeben, allerdings wird versucht, auch bei dieser Argumentation ohne eine kategorial sprachverschiedene Substanz/Materie/Welt auszukommen (weil ja die ganze Idee der sprachverschiedenen Bedeutung einer Beschreibung fallen gelassen wurde). Ich denke, das ist der entscheidende Punkt, an dem ich selbst nicht genau weiter weiß.
Aber der Reihe nach...
Analysieren wir die Behauptung: "Die Welt hat es schon vor der Sprache gegeben." Wir schreiben diesen Satz um in:
Es gab die Welt schon, bevor jemals gesagt wurde "Es gibt die Welt".
Laut Mitterer führt diese Behauptung in einen infiniten Regress, nämlich der folgenden Art:
(1) Es gab die Welt schon, bevor jemals gesagt wurde "Es gibt die Welt".
(2) Mit "Es gab die Welt schon, bevor jemals gesagt wurde 'Es gibt die Welt'" wird gesagt, dass es die Welt gibt.
(3) Es gab die Welt also schon, bevor jemals gesagt wurde "Es gab die Welt schon, bevor jemals gesagt wurde 'Es gibt die Welt'".
(4) Mit "Es gab die Welt also schon, bevor jemals gesagt wurde 'Es gab die Welt schon, bevor jemals gesagt wurde 'Es gibt die Welt''" wird gesagt, dass es die Welt gibt.
(5) Es gab die Welt also schon, bevor jemals gesagt wurde "Es gab die Welt also schon, bevor jemals gesagt wurde 'Es gab die Welt schon, bevor jemals gesagt wurde 'Es gibt die Welt''".
(6) Mit "..." ... usw. usf. ad infinitum
Mein derzeitiger Erkenntnisstand ist:
Mitterer hat hier wahrscheinlich übersehen, dass es sich um einen
gutartigen infiniten Regress handelt, um eine infinite 'Satzverlängerung', analog zum Wahrheitsregress ('"'x' ist wahr' ist wahr" ist wahr ... usw.). Denn die Sätze (1) bis (6) usw. sind - im Dualismus - immer wieder aufs Neue wahr. Trivial: Egal, wie lange der Satz wird, es sind immer neue, weitere Sätze, aber die Welt war immer schon, mit jeder neuen Behauptung, vorher da.
Könnte gezeigt werden, dass dieser infinite Regress doch bösartig ist, wäre es mit den Mitteln der Logik möglich, das dualistische Weltbild aus den Angeln zu hebeln. Vielleicht gibt es eine 'verborgene' alternative Lesart des Regresses, die dann fundamentale Konsequenzen hätte, ich habe sie noch nicht entdeckt.
Der infinite Regress ist - meinem derzeitigen Wissen nach - nicht dann nicht bösartig, wenn im 'Hinterkopf' ein sprachverschiedenes Diskursobjekt vorausgesetzt wird, sondern weil es einfach den Regeln der Logik nicht entspricht, dass er bösartig ist. Ich verdanke dies sehr ausführlichen Diskussionen mit Claude Gratton, dem Autor von "Infinite Regress Arguments".
Wenn wir aber logisch konsistent dualistisch sagen können "Die Welt war schon vor der Sprache da", dann stellt sich die Frage, wozu wir die nondualistische Alternative noch brauchen, sprich die Denkfigur: "Die Welt war schon vor der Sprache da" ist eine Beschreibung der Welt. Und diese Fortsetzung ist erst
nach der Beschreibung /Welt/ möglich.
Ein anderes Beispiel:
(1) Das Fossil gab es schon vor jeder Benennung "Fossil".
(2) "Fossil" am Satzanfang von (1) ist auch eine Benennung.
(3) Das Fossil gab es schon vor der Benennung "Fossil" am Satzanfang von (1).
(4) "Fossil" am Satzanfang von (3) ist auch eine Benennung.
(5) Das Fossil gab es schon vor der Benennung "Fossil" am Satzanfang von (3).
(6) "Fossil" am Satzanfang von (5) ist auch eine Benennung. Usw. usf. Ad infinitum
Ist dieser infinite Regress bösartig? Handelt es sich überhaupt um einen infiniten Regress? Claude Gratton sagt, (4) und (5) seien nur eine Wiederholung von (2) und (3) usw. Ich neige mittlerweile auch zu dieser Interpretation, obwohl die Reihe den Eindruck eines infiniten Regresses erweckt.
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Mit dem Versuch, zu zeigen, dass die von Mitterer 'entdeckten' beiden infiniten Regresse des Dualismus nicht bösartig sind, also für den Dualisten keine Konsequenzen haben, spiele ich advocatus diaboli. Die Sache ist komplizierter, wie Sie ja wissen
.
Denn:
Versuchen wir, die Argumente des Dualisten und des Nondualisten zu rekonstruieren.
Der Dualist sagt: Die Welt war schon vor der Sprache da. Diese Welt ist zwar immer so, wie sie zuletzt beschrieben wird, unser Wissen über die Vergangenheit wird mehr und mehr, und immer präziser, bis das Bild vielleicht eines Tages komplett sein wird. Klar ist aber immer, dass wir
hic et nunc denken, forschen, überprüfen, in der Erde graben, Gesteinsproben nehmen usw., aber das, was wir entdecken (etwa Fossilien), schon um vieles älter ist.
Der Nondualist fragt den Dualisten, seit wann, warum und wie er zwischen der vergangenen Welt (der Materie/Substanz) und seinen gegenwärtigen Untersuchungen unterscheiden kann. Und die Antwort lautet: seit er spricht/untersucht/denkt/forscht. Die Frage ist dann, ob diese denkjenseitige Substanz zwingend notwendig ist, wenn wir behaupten, dass die Welt schon vor der Sprache da war (und der Nondualist
leugnet dies ja nicht!). Da hänge ich, wie gesagt, selbst schon seit einiger Zeit.
LG
sw