Das "Wahrheits-Paradoxon" der Wissenschaft




Von Josef Mitterer selbst liegen bislang Anwendungen seines Denkens vor für: Die Wirklichkeit des Reisenden, die Konzepte "Zweifel", "Interpretation", "richtiger Abstand" und "objektive Distanz" sowie für die Frage, was in der Wissenschaft das Neue/die Innovation sein kann. Für letzteres Problem hat er ein interessantes "Wahrheits-Paradoxon" aufgestellt: Eine Dissertation muss neue Erkenntnisse enthalten, das fordert sogar das Gesetz. Wissenschaft strebt nach Erkenntnis und Wahrheit. Also ist die Dissertation, die Neues enthält, der Wahrheit näher als es die Publikationen dessen sind, der die Dissertation beurteilen soll: des Professors. Damit kann aber der Professor, der der Wahrheit nunmehr ferner liegt als der Dissertant, die Dissertation nicht beurteilen, es müsste ja umgekehrt der Dissertant den Professor beurteilen, da der Dissertant ja die Wissenschaft um Neues bereichert hat, also der Wahrheit ein Stück näher gerückt ist. Dem Professor bliebe nur der Ausweg, die Dissertation abzulehnen, sie also aus der Wissenschaft zu verbannen. Sobald er dies nicht tut, tritt die Wahrheits-Paradoxie auf.

Das "Wahrheits-Paradoxon" der Wissenschaft

Beitragvon sw23 » 22. Oktober 2016, 13:34

Liebe DiskutantInnen!

Ich habe ein neues Forum "Anwendungen des Non-Dualismus" und ein neues Thema erstellt. Ich freue mich auf Diskussionsbeiträge!

Im Original heißt es in Josef Mitterers Aufsatz "Die Paradoxien des Fortschritts. Zum Stand der Dinge im Fluß", erschienen 2013 im Sammelband "Wie kommt Neues in die Welt?", Velbrück Wissenschaft:

"13. Von akademischen Qualifikationsarbeiten für den Grad eines Bachelors oder Masters wird ausdrücklich nur verlangt, dass sie den Forschungsstand wiedergeben - und das ist aber nichts weiter als der Forschungsstand, den die Betreuer schon haben. Wenn es jedoch um Doktorarbeiten oder gar um Habilitationen geht, dann werden sogar von Gesetzes wegen neues Wissen und neue Erkenntnisse gefordert. Eine Dissertation müsste also zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen führen, um approbiert zu werden. Ob aber ein solches neues Wissen vorliegt, das über den bisherigen Erkenntnisstand hinausgeht, wird von genau jenen beurteilt, die nur über den bisherigen Wissensstand verfügen. Das Vorliegen neuen Wissens wird also in der Praxis von Wissenschaftlern/BetreuerInnen geprüft, die dieses neue Wissen selbst nicht haben.
Das heißt: Das Wissen from now on wird auf der Basis des Wissens so far beurteilt: Die neuen Erkenntnisse werden von den bisherigen Erkenntnissen aus beurteilt. Das ist paradox, vor allem unter Zugrundelegung der üblichen Vorstellung von Erkenntnisfortschritt in den Wissenschaften, derzufolge das Mehrwissen in der Zukunft liegt und die nächste Generation grundsätzlich mehr weiß als die frühere. Rückschläge sind möglich, aber im großen und ganzen nimmt unser Wissen zu, nicht nur kumulativ sondern auch qualitativ. Solange dieses "neue" Wissen eine bloß kumulative Fortsetzung bisherigen Wissens ist, kann dies wohl noch "positiv" beurteilt werden, wenn aber das neue Wissen dem bisherigen Wissen widerspricht, also bisherige Wissensansprüche zurückweist, dann führt das in Konflikte die durch professorale Autorität entschieden werden.
Während also bis zum Doktorat nur eine Wiedergabe von schon vorhandenem Wissen verlangt wird, soll ab diesem Zeitpunkt (auch) ein neues Wissen, ein Wissen from now on eingebracht werden, das der Betreuer nicht beurteilen kann, weil er es nicht hat....
Das spätere, "neue" Wissen wird also vom früheren, "alten" Wissen aus beurteilt: und wenn es sich in dieses nicht einfügt, dieses nicht bloß kumulativ vermehrt, dann wird es meist abgelehnt werden und in den akademischen Diskurs nicht Eingang finden.
Die Beurteilung von Dissertationen geschieht vom Wissensstand des Beurteilers aus und nicht von jenem des Beurteilten. Inzwischen werden kumulative Dissertationen immer beliebter: hier ist dann der Betreuer in der Regel Ko-Autor der Artikel die zu einer Dissertation zusammengefasst werden. Eine Kritik an den Auffassungen so far durch die Dissertantinnen ist damit nicht mehr vorgesehen, ja praktisch unmöglich. Kürzlich hat eine junge wissenschaftliche Mitarbeiterin dies so beschrieben: "Bei uns geht es um Fakten und nicht um Meinungen.", daher komme es auch nicht zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und ihrem Betreuer."


Es gibt hier also zwei Szenarien:

Entweder, der Dissertant fügt dem bisherigen Wissen kumulativ neues Wissen hinzu (er wendet etwa eine Theorie auf einen neuen Objektbereich an, oder er erforscht 'bloß' Neues zu einem Objekt), oder sein neues Wissen kritisiert oder verwirft gar bisheriges Wissen. Im ersten Fall weiß der Dissertant dann mehr über den Objektbereich als der Betreuer; er muss auch mehr über das bisherige Wissen oder den Kontext wissen, sich 'eingelesen' haben, damit er überhaupt neue Erkenntnisse produzieren kann. Im zweiten Fall kann natürlich der Betreuer sagen, der Dissertant habe den bisherigen Status quo nicht verstanden, ihn 'falsch dargestellt', nicht richtig zur Kenntnis genommen etc., womit wir wieder mitten in der Diskussion sind, siehe auch meine jüngsten Arbeiten zum Non-Dualismus auf https://univie.academia.edu/StefanWeber.
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